„Das hat uns doch auch nicht geschadet!“?

Puh, also mit diesem Satz werde ich mich wohl nie anfreunden können. Als ich dann Mutter geworden bin, habe ich ihn schon so oft gehört, dass er mir wieder aus den Ohren rausläuft. Keine Ahnung, ob das nur an meiner Verwandtschaft liegt oder ob alle Eltern mit dieser nichts-sagenden Phrase abgespeist werden.
So wie dieser Satz angewendet wird hat er sogleich etwas allmächtiges, überhebliches und doch auch rechtfertigendes an sich. Mit diesem einen Satz lässt sich einfach alles erklären. Kein Bonding nach der Geburt? Kein Problem, hat ja früher auch nicht geschadet. Klappt es mit dem Stillen nicht? Kein Problem, hat ja auch nicht geschadet die Flasche zu bekommen. Wofür braucht man überhaupt eine Wärmelampe über der Wickelkommode? Alle anderen überleben doch auch ohne dieses neumodische Zeug! Er wird verwendet wie eine Keule, die gegen jegliche Abweichungen vom alten, „normalen“ und bekannten geschmettert wird. Dadurch wird eine echte Unterhaltung auf Augenhöhe zu diesen Themen unmöglich, da die Sache ja schon glasklar ist, weil man mit einem der vielen Überlebenden spricht und der muss es doch wissen, dass es nicht schadet.

Was braucht ein Baby zum Überleben?

Ich persönlich fände es sehr schade, wenn es nur darum gehen würde meine Kinder irgendwie groß zu bekommen. Denn alleine dafür bräuchten sie mich nicht. Überleben könnten sie auch, wenn ich ihnen lediglich Nahrung geben würde, oder? Kaiser Friedrich II. (13. Jhd.) wollte in einem Experiment die Ursprache der Menschen ermitteln, wofür er Waisenbabys isolieren lies. Diese wurden zwar körperlich von den Ammen versorgt, durften aber ansonsten keine Zuwendung erfahren. Sie sollten frei von äußeren Einflüssen aufwachsen, um dann mit der menschlichen Ursprache zu sprechen. Unerwartet verstarben die Babys. Dadurch wurde offenbart, wie lebensnotwendig eine körperliche, emotionale und sprachliche Zuwendung für Babys ist. Dieses Wissen ging jedoch wieder verloren. Und in einer Zeit, in der angenommen wurde, dass die mütterliche Zuwendung sogar mehr Schaden als Nutzen bringen würde, machte der dadurch berühmt gewordene Forscher Harry Harlow in den 1950er Jahren ein weiteres grausames Experiment. Er isolierte Rhesusaffen nach ihrer Geburt und gab ihnen zwei leblose „Ersatzmütter“. Die eine Attrappe war aus Stahl, hatte aber auf Brusthöhe eine Flasche, womit sie ihn ernähren konnte. Die andere Attrappe hatte keine Nahrungsquelle, war aber schön weich und kuschelig. Wie er erwartet hatte, zog das kleine Äffchen die Nähe der kuscheligen Attrappe vor und ging nur zum Trinken zu der anderen Attrappe. Auch wenn er ihnen einen Schreck einjagte, suchten sie bei der kuscheligen Attrappe Schutz. Somit ist klar, dass bei der Wahl von Nahrung oder Nähe, die Nähe eine noch wichtigere Rolle für ein Neugeborenes spielt. Also ist Liebe als ein Grundnahrungsmittel zu verstehen, von dem man nicht genug geben kann.

Die eigene Geschichte

Zurück also zu unserer Floskel (Definition: eine nichtssagende Redewendung, die man meist nur aus Höflichkeit gebraucht). Hat es also wirklich nicht geschadet direkt nach der Geburt von der Mutter getrennt und alleine in ein Bettchen weit weg von ihr gebracht worden zu sein? Kann man wirklich davon ausgehen, dass nur, weil aus jemanden ja doch noch etwas geworden ist, alle Widrigkeiten und Verletzungen, die er auf diesem Weg ertragen und überwinden musste „nicht so schlimm“ waren? Und das wichtigste, wenn ich es doch für meine Kinder anders machen kann, warum sollte ich nicht? Warum sollen sie es so schwer haben, nur, weil es andere auch schwer haben? Tut mir leid, aber das macht für mich keinen Sinn. Es ist schrecklich, wenn jemand ohne sichere Bindung und liebevolle Bezugsperson aufgewachsen ist. Und nur, weil er das überlebt hat, muss das für mich als Mutter noch lange nicht heißen, dass ich hier etwas nachlässiger mit meinen eigenen Kindern sein darf. Im Gegenteil. Es alarmiert mich und zeigt mir, was ich für meine Kinder nicht möchte und wie sehr es meinem Mutterherz widersprechen würde so zu handeln wie manche es noch heute glauben, dass es „normal“ sei. Es schmerzt mich, wenn meine Oma mir erzählt, wie sie ihr eigenes Kind erst am nächsten Morgen von einer Hebamme zum stillen gebracht bekommen hat und dies ihr erster Moment mit ihrem Baby war, auch wenn es damals als „normal“ galt. Ich kann jedoch auch verstehen, dass es schwer sein muss einen solchen Schmerz zulassen zu können. Mit dieser Floskel „aus ihm ist doch trotzdem noch was geworden“ kann man einen gewissen Abstand zu den tatsächlichen Gefühlen wahren, die man nicht aufrühren möchte. Und mit diesem Wissen in mir, kann ich diesen Satz als Selbstschutz für die betroffene Person sehen und ihn nicht weiter an mich heranlassen.
Hört also mal genau hin, in welchem Zusammenhang euch diese Floskeln an den Kopf geworfen werden. Wahrscheinlich stellt ihr bald fest, dass das ganze gar nichts mit euch, sondern mit der eigenen Geschichte eures Gegenübers zu tun hat.
Und zum Schluss: An alle die behaupten, sie wüssten wie der Hase läuft: Er hoppelt! 😉\"\"[templatera id=\”5708\”]

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